Die göttliche Küste

È compiuta la strada della costiera di Amalfi, cominciata nel 1832

Die Straße entlang der Amalfiküste, deren Bau 1832 begonnen wurde, wurde fertiggestellt.
(Jahr 1850: L’italia secolo XIX, S. 32)

Fahren wir nach Amalfi! Wir waren zu Mittag von Sorrent mit dem öffentlichen Bus Richtung Amalfi losgefahren. Nachdem der Bus zuerst die Hügel rund um Sorrento durchquert hatte, kehrte er etwa eine halbe Stunde später zur Küste zurück. Bereits die ersten Kurven der legendären Strada Statale 163 Amalfitana versetzen die Fahrgäste abwechselnd in Staunen und Schrecken. Immer wieder fallen die Felsen entlang der Straße hunderte Meter in die Tiefe und geben den Blick auf das glitzernde Meer frei. Schwindelgefühl macht sich breit, während der offenbar ortskundige Chauffeur zügig und risikofreudig die wunderschöne Küste entlangbraust.

Strada Statale 163 Amalfitana

Die Strada Statale 163 Amalfitana bietet zahlreiche wunderschöne Ausblicke auf die „göttliche Küste“.

Nach einer Stunde zeigt sich der erste bedeutende Hafen der ehemaligen Seerepublik Amalfi. Positano schlängelt sich, gleich einem surrealen Traumbild, die steilen Abhänge der Monti Lattari („Milchberge“) hoch, gerade so, als ob der Ort die typische vertikale Perspektive einer süditalienischen oder alpenländischen Weihnachtskrippe imitieren wollte. Treppen und Gässchen durchziehen den pittoresken Ort, der von Zitronen- und Orangenhainen umgeben ist. Die Natur ist auch im Hochsommer überraschend grün. Hier trifft sich die Highsociety der Welt. Es ist Italien wie aus dem Reiseprospekt.

Positano bites deep. It is a dream place that isn’t quite real when you are there and becomes beckoningly real after you have gone. Its houses climb a hill so steep it would be a cliff except that stairs are cut in it. I believe that whereas most house foundations are vertical, in Positano they are horizontal.

(John Steinbeck, Harper’s Bazaar)

Kurve für Kurve wird die Landschaft auf dem Weg von Positano nach Amalfi nun schöner, spektakulärer, atemberaubender. Im Sekundentakt bieten sich neue überwältigende Aussichten auf das Meer und erinnern einen daran, dass diese Region den Beinamen  divina costiera (göttliche Küste) trägt. Kleine Orte auf Felsvorsprüngen direkt neben der Straße vermitteln das Gefühl, dass sie jederzeit ins blaue Meer abstürzen könnten.

Mythos Amalfi

Positano

Positano der „vertical place“ schlängelt sich den steilen Berghang empor.

Amalfi wurde erstmals 596 n. Chr. in schriftlichen Quellen erwähnt. Da die Stadt aufgrund der gebirgigen Umgebung jahrhundertelang nur schwer über den Landweg zu erreichen war, dürfte sich Amalfi bereits im Frühmittelalter in Richtung Meer orientiert haben. Ende des 6. Jahrhunderts scheint die Stadt jedenfalls bereits Bischofssitz und eine der wichtigsten Seehandelsstützpunkte des Byzantinischen Reichs (Exarchat von Ravenna) gewesen zu sein.

Il giorno del giudizio, per gli amalfitani che andranno in paradiso, sarà un giorno come tutti gli altri.

Der Tag des Jüngsten Gerichts, an dem die Bewohner Amalfis ins Paradies auffahren, wird für sie wie jeder andere Tag ihres Lebens sein.
(Renato Fucini)

Im Lauf des 9. Jahrhunderts erlangte Amalfi schließlich seine politische Selbständigkeit und wurde neben Genua, Pisa und Venedig zu einer der mächtigsten Seerepubliken Italiens. Amalfi dominierte den Seehandel mit dem Orient im gesamten östlichen Mittelmeerraum. Erst die Eroberung durch die Normannen im Jahr 1073 und Plünderungen durch die Seerepublik Pisa Mitte des 12. Jahrhunderts führten schließlich zum Ende der großen Zeit von Amalfi. Der Handel erholte sich zwar wieder auf geringerem Niveau aber ein Tsunami zerstörte 1343 weite Teile der Stadt und führte schlussendliche zur endgültigen Abhängigkeit Amalfis von Pisa. 1582 wurde Amalfi dem Königreich Neapel zugesprochen und die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt begann sukzessive zu schwinden. Erst die touristische Erschließung durch die Strada Statale 163 gab der Region wieder einen Impuls. Übrig blieb der Mythos einer Stadt mit großer Geschichte und paradiesischer Schönheit.

„Oh my God, this car is fucked!“

Signor Bassano was a remarkable man. He was capable of driving at a hundred kilometers an hour, blowing the horn, screeching the brakes, driving mules up trees, and at the same time turning around in the seat and using both hands to gesture, describing in loud tones the beauties and antiquities of Italy and Trhrot Europe. It was amazing… It damn near killed us… And below us, and it seemed sometimes under us, a thousand feet below lay the blue Tyrrhenian licking its lips for us.

(John Steinbeck, Harpers Bazaar)

Ravello - Bus

Auf dem Weg nach Ravello – kleiner Schäden gehören zum Alltag im süditalienischen Autoverkehr.

Ein Aufschrei geht durch die Menge. Hände werden über dem Kopf zusammen-geschlagen. Kurz, man möchte die Augen lieber geschlossen lassen. Manche der Touristen im Bus tragen noch das Badetuch von ihrem Strandausflug nach Amalfi lässig über ihre Schultern geworfen. Der Bus ist gerade auf einem Abzweiger der Strada Statale 163 Amalfitana in Richtung Ravello unterwegs, als plötzlich gar nichts mehr geht. Ein kleiner Lieferwagen auf der anderen Seite führt genau zu jener Situation, die man den ganzen Tag gefürchtet hatte: Hier gibt es kein Vorbeikommen. Während sich hinter den beiden Autos schnell ein kleiner Stau bildet, diskutieren die Fahrer heftig wie man die Situation lösen könnte.

Once during the war I came up this same lovely coast in the American destroyer Knight. We came fast. Germans threw shells at us from the hills and aircraft splashed bombs at us and submarines unknown tried to lay torpedoes on us. I swear I think it was much safer than that drive with Signor Bassano.

(John Steinbeck, Harper’s Bazaar)

Als nach 20 Minuten klar wird, dass es aufgrund der Autoschlangen kein Zurück gibt, tauschen die Fahrer ihre Versicherungsdaten aus und der Busfahrer nimmt sich ein Herz und fährt. Ein ohrenbetäubendes Getöse hebt an, Metall verbiegt sich, Lack splittert ab und die vorwiegend nordeuropäischen Businsassen schreien kurz auf. Mit stoischer Ruhe nimmt der Fahrer die Zerstörungen zur Kenntnis und nach einer halben Minute bewegen sich die Kolonnen wieder. In Ravello werden die Touristen später die Spuren der Zerstörung mit ihren Kameras begeistert dokumentieren.

Et in Arcadia ego

Ravello - Panorama

Ravello – spektakuläres Panorama von den Terrassen der Villa Rufolo

Ravello. Am frühen Abend sind wir endlich an unserem Ziel angekommen. Hoch über dem Meer thront das kleine Arkadien in den Bergen der Monti Lattari. Der gewaltige Ausblick, den man hier von den Gartenterrassen der Villa Rufolo bzw. der Villa Cimbrone genießen kann, wurde schon in den 1950er Jahren durch den Film Beat the Devil (Schach dem Teufel) mit Humphrey Bogart und Gina Lollobrigida weltberühmt. Das Chaos der Hinfahrt ist schnell vergessen,  der autofreie Ort strahlt trotz der zahlreichen Touristen eine unglaubliche Ruhe aus.

Arkadien, die paradiesische Traumlandschaft der Dichter, wo edle Hirten – fern den Problemen der Gegenwart – ihre Tage in Muse wie im Paradies verbringen. Vergil erwähnt Arkadien erstmals in seinen Eclogae/Bucolica 42-39 v. Chr.  Damit schuf er einen Mythos, der viele Jahrhunderte anhalten sollte. Jacopo Sannazaro greift in seinem 1504 veröffentlichten Werk Arcadia  das Thema Arkadien wieder auf und schafft mit diesem Schäferroman einen Klassiker der Literaturgeschichte.

Amalfi - Dom

Der wunderschöne Dom von Amalfi im Stadtzentrum

Während Vergil Arkadien noch als eine Mischung griechischer und italienischer Landschaften beschreibt, verlegt Sannazaro die Berg- und Hirtenlandschaft Arkadien in den Ort seiner Kindheit, San Cipriano Picentino, in der Nähe von Salerno (ca. eine Stunde südöstlich von Amalfi). Hierhin verschlägt es seinen Titelhelden Sincero. Enttäuscht von der Liebe und den politischen Wirren in Neapel versteckt er sich als Hirtenjunge in Arkadien und erlebt dort den Abglanz des Goldenen Zeitalters, wo Mensch und Tiere in Frieden leben und die Natur ihre Gaben ohne Mühsal darbietet. Die Schäfer in Sannazaros Werk sind großen Poeten seiner Zeit nachempfunden und widmen sich in erster Linie der Poesie.  Erst ein böser Traum, eine Allegorie auf die Eroberung Neapels durch den französischen König Karl VIII., lässt den Dichter in die große Stadt zurückkehren, wo er zu seinem Entsetzen seine Liebe tot auffindet.

Nicolas Poussin

Nicolas Poussin, Die arkadischen Hirten 2. Fassung, (1638–1640)

Die Flucht aus dem Jetzt, der rückwärtsgewandte Blick in die goldene Vergangenheit und die von außen drohenden Probleme der Gegenwart sind die Kernelemente vieler folgender Schäferromane und Dichtungen zum Thema Arkadien. Diesem Wunsch nach dem edlen Leben ohne Sorgen wurde in den folgenden Jahrhunderten mit dem Spruch Et in Arcadia Ego („Auch ich in Arkadien“) Ausdruck verliehen.  Anfangs lässt der Spruch – basierend auf Gemälden von Giovanni Francesco Barbieri und Nicolas Poussin – noch eine unheimliche, düstere Deutung zu:  „Auch ich, der Tod, bin in Arkadien“. Später erfährt er eine Umdeutung ins Positive durch ein zweites Gemälde von Poussin. Zwar wird der Satz noch immer auf Grabsteinen dargestellt, doch die Szenerie wirkt heiterer und der Sinnspruch gilt dem Menschen. Schriftsteller wie Goethe, Schiller und Herder verwenden den Text nun mit der Bedeutung, dass ein jeder Mensch in Arkadien und damit zur Glückseligkeit geboren sei, auch wenn das Leben sich letztendlich vielleicht anders entwickelt hat.

Auch ich war in Arkadien geboren,
Auch mir hat die Natur
An meiner Wiege Freude zugeschworen;
Auch ich war in Arkadien geboren,
Doch Thränen gab der kurze Lenz mir nur.

(Resignation, Friedrich Schiller)

Goethe machte Et in Arcadia Ego schließlich zum Motto seiner Italienischen Reise, die das positive, romantisierende Italienbild von Generationen von deutschen Schriftstellern prägen sollte.

Der Tag neigt sich dem Ende zu. Der Sonnenuntergang wird zu einem kitschigen Spektakel sondergleichen und danach lassen nur mehr die Lichter der senkrechten Orte die spektakulär abfallenden Küsten erahnen. Der letzte Bus – gefüllt mit Touristen, die das schicke Nachtleben in Amalfi und Positano genießen möchten – verlässt Ravello in wenigen Minuten. Ungern nimmt man Abschied von dem kleinen verträumten Ort in den Bergen hoch über dem Meer, denn heute war auch für uns die Zeit in Arkadien nur von kurzer Dauer.

 

Literatur:

  • Comandini, Alfredo, L’Italia nei cento anni del secolo XIX (1801-1900) giorno per giorno illustrata, Bd. 2, 1900, ed. A. Vallardi.
  • Goethe, Johann Wolfgang  von, Italienische Reise, Hamburger Ausgabe,  ed. Herbert von Einem, 10. Aufl.  München 2004, 582f.
  • Snell, Bruno, Arkadien. Entdeckung einer geistigen Landschaft, in: Die Entdeckung des Geistes, Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, 4. Aufl. Göittingen 1975, S. 257-274.
  • Leuschner, Udo, Arkadien – Entstehung einer Traumlandschaft,  in: Sehn-Sucht, 26 Studien zum Thema Nostalgie, 1991. Als PDF auf: http://www.udo-leuschner.de
  • Panofsky, Erwin, Et in Arcadia ego. Friedenauer Presse, Berlin 2002.
  • Skinner, Patricia, Medieval Amalfi and Its Diaspora, 800-1250, Oxford 2013.
  • Schiller, Johann Christoph Friedrich von, Resignation, Gekürzte Fassung auf:  http://freiburger-anthologie.ub.uni-freiburg.de
  • Schwarz, Ulrich, Amalfi im frühen Mittelalter (9.-11. Jahrhundert). Untersuchungen zur Amalfitaner Überlieferung, Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Band 49, Tübingen 1978.
  • Steinbeck, John, Harper’s Bazaar, May 1953, Auszüge auf: http://www.jackthedriver.com
  • Töns, Ulrich, Sannazaros Arcadia. Wirkung und Wandlung der vergilischen Ekloge, in: Antike und Abendland  Hrsg. v. Koppenfels, Werner, Bd. 23, 2010, S. 143–161.

Webpages:

Bilder:

  • Poussin, Nicolas, Die arkadischen Hirten 2. Fassung, (1638–1640), The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002. ISBN 3936122202. Distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH, auf Wikipedia, Wikimedia Commons: https://de.wikipedia.org